Endlich gehen Jahrzehnte gelinden Selbstbetrugs zu Ende. Damals, 1981, habe ich als Jugendlicher die Veröffentlichung des letzten rundum überzeugenden Albums der Rolling Stones gerade noch so miterlebt: „Tattoo You“. Für die LP reichte das Taschengeld nicht, aber für die Singles „Start Me Up“ und „Waiting For A Friend“ – diesen Song verehre ich bis heute, auch wegen des außerirdisch schönen Saxophonspiels von Sonny Rollins. Danach hieß es, die Enttäuschungen zu ertragen und als Stones-Fan irgendwie die Fahne hoch- und sich an einzelnen großartigen Songs festzuhalten. Ich habe mich redlich bemüht! Die Wahrheit ist: Seit „Tattoo You“ und damit über vier Jahrzehnte haben die Stones kein Album herausgebracht, das ich mir nicht irgendwie schönreden musste. Als Gesamtwerk hat für mich keines funktioniert – wenn auch „Bridges to Babylon“ (1997) erfreulich nah dran war. Klasse waren die Stones nur, als sie mit dem Quasi-Unplugged-Album „Stripped“ (1995) und den Blues-Covern auf „Blue and Lonesome“ (2016) in der Zeit zurückreisten. 

Vielleicht ist es ja der überraschende Erfolg dieser Hommage, der sie noch einmal auf Kurs gebracht hat. Oder war es der im hohen Alter der Herren verständliche Drang, ein Album zu hinterlassen, an das sich die Gemeinde dereinst mit Freude erinnern würde? Anyway, they got their shit together … und legen mit „Hackney Diamonds“ ein Album vor wie „eine frisch geöffnete Tüte Salt-and-Vinegar-Chips“, so schreibt´s treffend der Spiegel

Hier bin ich Fan, hier darf ich’s endlich wieder sein. Die Musik ist herrlich aus der Zeit gefallen, aber nicht altbacken, voller Selbstzitate, aber keine Selbstkopie. Produktion, Songwriting und Performance sind in einer guten Balance und verstärken sich gegenseitig – es ist wohl ein Extralob an den Produzenten Andrew Watt fällig. Mick Jagger singt wie ein junger Gott, verblüffend. Seine Texte sind tongue-in-cheeck und gut gewürzt, ein wenig Altherren-Machismo muss man ihm hin und wieder verzeihen. Die beiden Gitarreros Ronnie Wood und Keith Richards brillieren als Team und drücken der Platte ihren Stempel auf. Das Songwriting überzeugt durchgängig; nur bei „Driving me too hard“ fühle ich mich sachte an Jaggers uninspirierte Soloeskapaden in den 1980er-Jahren erinnert. 

Streifzug durch die eigene Geschichte

Gekonnt ziehen die Stones alle Register, mit denen sie altgediente Fans glücklich machen können. Sie werfen die Musik wie ein Fischernetz über ihre eigene Geschichte, und den Fang verteilen sie genüsslich auf die Rillen: Blues, Disco, Honkytonk, Country, Gospel, Stadiontaugliches … es ist alles da. Der im Jahr 2021 verstorbene Drummer Charlie Watts ist auf zwei Songs zu hören, sogar Bill Wyman, Bassist der Originalbesetzung, hat sich zum ersten Mal seit seinem Austritt aus der Band im Jahr 1993 wieder für einen Song ins Studio bequemt. Das wärmt das Herz. Ex-Beatle Paul McCartney – war da nicht was mit Beatles gegen Stones? – trumpft mit seinem Fuzz-Bass für „Bite My Head Off“ auf. Elton John spielt Klavier auf „Live By The Sword“ sowie „Get Close“. Und mit Lady Gaga als Call-and-Shout-Partnerin von Mick Jagger und mit Stevie Wonder an den Tasten hebt die Band zum großen Finale auf Seite zwei an: „Sweet Sounds from Heaven“ funktioniert wie eine komprimierte Werkschau. Der Song gospelt wunderbar vor sich hin, er hat den Blues, und er hat den Rock. Jagger dehnt und streckt sich mit seinem Gesang, liefert sich mit Lady Gaga ein an „Gimme Shelter“ angelehntes Duell, irgendwann setzen Sticky-Fingers-artige Bläser ein und lassen die Sounds zurück gen Himmel steigen. Es ist ein Fest, wie es nur die Stones feiern können.

Dass sie die Platte dann mit dem „Rolling Stone Blues“ von Muddy Waters, nach dem sie sich einst benannt haben, ausklingen lassen – Herz, was willst Du mehr? Die Rolling Stones waren immer die Fackelträger des Rock´n´Roll. Es steht ihnen gut zu Gesicht, dass sie den alten Meistern, denen sie alles zu verdanken haben, weiterhin Tribut zollen. So. Jetzt drehe ich beschwingt und ein wenig glückselig zum x-ten Male die Platte um. Wohlmöglich, so denke ich gerade, wurzelt meine helle Freude über „Hackney Diamonds“ in dem erlösenden Gefühl, dass es sich zu guter Letzt doch gelohnt hat, der Band all die Jahre die Treue zu halten.

Anspieltipps: Get Close / Whole Wide World / Sweet Sounds from Heaven

Verfügbarkeit auf Vinyl: problemlos und wie heute üblich bei großen Neuerscheinungen in allerlei Farbvarianten.