In der nordenglischen Industriestadt Salford befindet sich, unweit zur Stadtgrenze zu Manchester in der Coronation Street gelegen, ein Pilgerort für Popmusikfans aus aller Welt: der 1903 gegründete Salford Lads Club. Der Grund, warum es Jahr für Jahr Tausende Besucher:innen in diese Arbeiterklasse-Gegend zieht, ist ihre Liebe zur Indierockband The Smiths. Sie ist durch ein ikonisches Foto auf ewig mit dem Club verbunden.
Das Bild ziert das Innencover der 1986 veröffentlichten, vielleicht besten LP von The Smiths, „The Queen is Dead“. Der Fotograf Stephen Wright hat es geschossen; die Schwarzweiß-Aufnahme zeigt die Bandmitglieder Morrissey, Johnny Marr, den im Mai 2023 verstorbenen Andy Rourke und Mike Joyce vor dem Eingang des Clubs. Ein Zeitdokument, das in der Tristesse der Umgebung und der angespannten wirtschaftlichen Lage jener Zeit Jugend, Haltung und Hoffnung symbolisiert. Wright selbst schreibt die Wirkung des Fotos auch der Mona-Lisa-haften Mimik von Morrissey zu, der die Szenerie lässig dominiert.
Mein Freund Bernd Socha, überzeugter Anhänger von The Smiths seit der ersten Single „Hand in Glove“ von 1983, und ich besuchen langjährige Freunde in Salford, der Partnerstadt unserer Heimatstadt Lünen, als wir uns zur Stippvisite zum Salford Lads Club aufmachen. Nur dem englischen Regen haben wir es wohl zu verdanken, dass wir den Club ganz allein besichtigen dürfen. Noch dazu mit dem Künstler und Clubleiter Leslie Holmes als exklusivem Guide und Geschichtenerzähler. Er bittet uns einfach herein, als wir außerhalb der Besuchszeiten eintreffen und uns draußen nassregnen lassen, um das zu tun, was so gut wie alle Besucher:innen nicht versäumen möchten: das legendäre Foto aus dem LP-Cover der Smiths nachzustellen. Was für ein Glück! Und was für ein gastfreundlicher, für seine Sache brennender Mensch, der uns jeden Winkel des Hauses zeigt.
Too brighten young lives …
Leslie Holmes weiß natürlich genau, warum wir gekommen sind, aber er hebt sich das Beste für den Schluss auf. Zunächst erzählt er leidenschaftlich von der Arbeit des Clubs und dessen Mission, „too brighten young lives and make good citizens“. Mit anderen Worten: Der Club wurde gegründet, um die Jungs aus den Arbeitervierteln von der Straße zu holen und von den Gangs fernzuhalten. Bis in die Anfänge sind die vielfältigen Aktivitäten des Clubs dokumentiert, Fotos aller je veranstalteten Ferienlager sind zu sehen, ebenso Zeitungsausschnitte und Fotos von Prominenten, die den Club besucht haben und/oder unterstützen. Johnny Marr, der Gitarrist und Komponist der Smiths, gehört dazu. Er ist nach der Trennung der Gruppe im Jahr 1987 in der Region geblieben, hilft dem Club immer wieder beim Fundraising, während sich Morrissey nach Los Angeles verabschiedet hat.
Holmes hat die Namen aller jungen Leute, die je Mitglied im Salford Lads Club waren, in einer riesigen Installation aus Metall verewigen lassen. Und wer genau hinschaut, entdeckt dort auch den Namen GW Nash. Es handelt sich um niemand anderen als Graham William Nash, der mit seinem Schulkollegen Allan Clark in den 1960er-Jahren The Hollies gründete und als Mitglied von Crosby, Stills, Nash (and Young) die Hippie-Zeit musikalisch mitprägte. Als Solokünstler ist er bis heute aktiv. Im Veranstaltungsraum stehend, können wir uns mühelos vorstellen, wie er und seine Hollies, noch grün hinter den Ohren, auf dieser Bühne im Salford Lads Club probten – übrigens nur zwei Straßen entfernt vom Zuhause jener Jennifer Eccles, von der die Band im gleichnamigen Song sang. Es hat sich hier nicht viel verändert: Der Club atmet Beständigkeit und Tradition, schafft Raum für Sport-, Bildungs- und Freizeitaktivitäten, wie er es seit mehr als 100 Jahre tut. Im Buch „The Manchester Musical History Tour“ berichten die Autoren Phill Gatenby und Craig Gill zudem, dass Peter Hook von Joy Division/New Order ebenfalls dem Club angehörte und Dream Theatre Videos zu „Life in a northern town“ dort drehte.
Im Allerheiligsten
Erst, als uns Leslie Holmes mit der Geschichte und Arbeit des Clubs, der offiziell längst „Salford Lads and Girls Club“ heißt, vertraut gemacht hat, führt er uns zum Allerheiligsten: dem ehemaligen Geräteraum der zentralen Club-Sporthalle, der The Smiths gewidmet ist. Es ist eine beeindruckende Huldigung, die die Fans mitgeschaffen haben. Die Wände sind zugepflastert mit Fotos, Zeitungsausschnitten, Plakaten. Unzählige Post-it-Botschaften von Anhängern der Band füllen die letzten Quadratzentimeter. Alte Gewichte und Hanteln liegen wie eh und je vor den Wänden. Nichts hier ist museal, alles ist improvisiert, liebevoll zusammengepuzzelt und stetem Wandel unterworfen. Es gibt wohl keinen Ort, an dem man dem Phänomen The Smiths so nahekommen und ihre kulturelle Wucht auf sich wirken lassen kann. Um die reiche Symbolik und die subtilen Botschaften in diesem Raum entschlüsseln zu können, braucht es jedoch mitunter Holmes´ kundige Erläuterungen.
Dies gilt zum Beispiel für den Verweis auf das Theaterspiel „A Taste of Honey“ von Shelagh Delaney aus den späten 1950er-Jahren. In Salford angesiedelt, thematisiert das Stück – für die damalige Zeit ungewöhnlich offen – Fragen nach ethnischer Herkunft, Klassenzugehörigkeit und sexueller Orientierung. Es gehört zum „kitchen sink realism“, einer Kunstrichtung, die Mitte des 20. Jahrhunderts ungeschminkt die soziale Situation der Arbeiterklasse in Großbritannien kommentierte. Bekanntermaßen hatte „A Taste of Honey“ großen Einfluss auf The Smiths. Und dass die Band in einer Zeit erfolgreich war, in der die konservative Premierministerin Maggie Thatcher der Arbeiterklasse praktisch den Krieg erklärt hatte („Thatcherism“), erscheint vor diesem Hintergrund nur folgerichtig. „The Smiths sind für Manchester das, was für Liverpool die Beatles waren“, erklärt Leslie selbstbewusst.
Morrisseys scharfe Zunge
Bernd hat schon immer um die Bedeutung der Band gewusst. „Ich habe damals die Texte von Morrissey gehört und sofort gedacht: Ja genau, so ist es, so fühlt sich das Leben in vielen Situationen für mich an“, erzählt er mir, als wir, verdutzt über unser unerwartetes Erlebnis, wieder auf der verregneten Straße stehen. Ich selbst habe The Smiths erst für mich entdeckt, als es sie längst nicht mehr gab. Ihr Gitarrensound, ihr Songwriting und Morrisseys bissige und milieutreue Texte – mal herrlich ironisch, mal melancholisch überzogen – faszinieren mich heute mehr als damals in den 1980er-Jahren. Gleichzeitig bin ich fassungslos, dass er sich mittlerweile zu einem Unterstützer der rechtsextremen Spinner von „For Britain“ gewandelt hat.
„The Queen is dead“ – schon der Titel ist eine Provokation – zeigt Morrissey in Hochform. In „There´s a light that never goes out“ versteigt er sich zu einer Liebeserklärung der besonderen Art. Gemeinsam von einem Doppeldeckerbus überfahren zu werden, sei eine „himmlische Art“ zu sterben. In „Cemetery Gates“ besingt er eine Debatte zweier junger Leute über Lyrik und outet sich als Anhänger von „wild lover“ Oscar Wilde. In „Bigmouth strikes again“ setzt er sich mit beißendem Zynismus mit der Reaktion der britischen Medien auf seine Person und Texte auseinander: „Jetzt weiß ich, wie sich Jeanne d´Arc fühlte, als die Flammen ihre römische Nase erreichten.“ Morrissey auf dem medialen Scheiterhaufen. Ja, da scheint er sich ziemlich wohlzufühlen. Und im Titelsong „The Queen is dead“ nimmt er die britische Monarchie aufs Korn, visualisiert auf dem Cover durch eine Aufnahme des Schauspielers Alain Delon aus dem Film L’Insoumis („Die Hölle von Algier“) aus dem Jahr 1964.
Provokation für Monarchisten
Doch zurück zum legendären Foto im Klappcover des Albums: Als es im Jahr 1986 erschien, führte eine glühende Monarchistin den Salford Lads Club. Sie war „not amused“, ihren Club im Kontext einer Platte namens „The Queen is dead“ zu sehen. Der Club hatte keine Erlaubnis für das Foto gegeben und sorgte sich, dass die Einrichtung mit den provokanten Texten von „The Queen is dead“ assoziiert werden könnte. Ein Zerwürfnis zwischen Club und Fotograf war die Folge. Erst als Leslie Holmes die Verantwortung für den Club übernahm, konnte der Streit überwunden werden. Mittlerweile darf der Club das ikonische Bild immer wieder für sein Merchandising verwenden und so die Kasse für seine unverändert wichtige Arbeit mit jungen Menschen aufbessern. Und das alles, obwohl keiner der Smiths´ je Mitglied im Salford Lads Club war.
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…