Wenn ich an das Esbjörn Svensson Trio (e.s.t.) denke, wird mir ebenso wehmütig zumute wie warm ums Herz. In den späten 1990er-Jahren und in den 2000er-Jahren erschien ein großartiges Album der Schweden nach dem anderen. Pure Magie, hypnotischer Jazz, Seelenmusik – gespielt von Bandleader Esbjörn Svensson am Flügel, Dan Berglund am Bass und Magnus Öström am Schlagzeug. Ihre Konzerte waren Naturereignisse. An einem Flügel scheint es kein Bauteil zu geben, dem Svensson nicht einen Ton entlocken konnte. Und auch Berglund und Öström bearbeiteten ihre Instrumente mit einer Intensität, die mitunter einen Schwerarbeiterzuschlag verdient gehabt hätte. Bis … ja, bis von einem Tag auf den anderen alles vorbei war. Esbjörn Svensson kam im Jahr 2008 bei einem Tauchunfall ums Leben. Just in dem Moment, in dem sich die Band anschickte, die Welt zu erobern. Tragisch und unendlich traurig.

Markenzeichen der Band war immer, dass sie das reiche Erbe des Jazz mit der Musik ihrer skandinavischen Heimat verschmelzen ließen, Einflüsse aus der Klassik verarbeiteten, mitunter klangen wie eine Rockband und aus all dem einen eigenständigen Sound kreierten. Mitreissend, wegweisend und mit einem Appeal, der ihre Platten in die Popcharts führte. Auf „Tuesday Wonderland“ aus dem Jahr 2006 klingen sie noch ein wenig lässiger und selbstverständlicher als auf ihren anderen Einspielungen. Aber zugegeben, vielleicht ist das nur eine Frage des Geschmacks und subjektiven Hörempfindens.

Jedenfalls perlt das Titelstück „Tuesday Wonderland“ heilsam wie ein mäandernder Fluss aus Klängen und Melodien aus den Boxen – man kann sich darin wunderbar verlieren. Das „Failing Maid Präludium“ hingegen lebt vom Kontrast geradezu Bach´scher Pianopassagen und durchdringender Rocksounds. „Dolores in a Shoestand“, das interessanteste Stück der Platte, zeigt die Meisterschaft, mit der die drei aus einem vergleichsweise einfachen Thema im Zusammenspiel und durch Improvisation ein kleines Wunder nach dem nächsten kreieren konnten. Wenn ich es recht bedenke, gibt es auf „Tuesday Wonderland“ nicht einen langweiligen Takt.

Kontroverse in den USA

„Tuesday Wonderland“ hat international in der Jazzwelt für Aufsehen gesorgt und in den USA sogar eine Kulturdebatte ausgelöst. „Downbeat“, das weltweit vielleicht einflussreichste Jazzmagazin, hat damals e.s.t. als erste nicht-amerikanische Jazzgruppe aufs Titelblatt gehoben. Der europäische Jazz war erwachsen geworden. In den Augen einiger Traditionalisten in den USA erschien die Titelseite als Sakrileg und als Provokation gegenüber farbigen Jazzmusiker:innen, die darauf verwiesen, dass der Jazz mit seinen Wurzeln in Gospel und Blues untrennbar mir ihrer Identität verbunden sei. Und jetzt feierte Downbeat drei weiße Europäer? Die Diskussion über kulturelle Aneignung, die heute intensiv bis verbittert geführt wird, ist also keineswegs neu. Jedoch waren und sind e.s.t. dafür die falschen Adressaten. Ihre Musik hatte einen eigenwilligen und unverwechselbaren Charakter, der bis heute fasziniert. e.s.t. versuchten keine aneignende Kopie, sondern wagten kühne Brückenschläge.

Übrigens machen Magnus Oström und Dan Berglund auch heute noch großartige Musik, zum Beispiel zusammen mit Bugge Wesseltoft in der Formation „Rymden“. Und wie ein ferner Gruß aus einer vergangenen Zeit sind im Jahr 2022 Soloaufnahmen von Esbjörn Svensson gefunden und von ACT auf der LP „Home.s.“ veröffentlicht worden. Ein wenig Trost.

Und dennoch – ich vermisse e.s.t.


Weitere Anspieltipps: Eighthundred Streets By Feet / The Goldhearted Miner / Goldwrap

Verfügbarkeit auf Vinyl, Stand Januar 2023: Schwierig, online offenbar ausverkauft. Vielleicht gibt es Chancen im stationären Plattenhandel. Ansonsten gilt es, nach guten Gebrauchten Ausschau zu halten.