Ist es tatsächlich fünf Jahre her, seit die damals 17-jährige Billie Eilish mit ihrem Debütalbum die Popwelt erschüttert und gemeinsam mit ihrem Bruder Finneas völlig verdient sechs Grammys abgeräumt hat? Ein halbes Jahrzehnt und einige Zumutungen später – etwa die Coronapandemie, den beschleunigten Klimawandel und den russischen Überfall auf die Ukraine –, lässt sich jedenfalls mit Fug und Recht behaupten: „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ hat den Test der Zeit bestanden. 

Offen und persönlich gibt Billie Eilish in den Songs Einblicke in ihr Innenleben. Sie avanciert genau zu jener Stimme, auf die weltweit viele jungen Menschen der Gen Z offenbar gewartet haben. Dunkel geht es in den Songs zu, Tore zum Unbewussten öffnen sich. Träume und Traumata, Beziehungsdramen und Enttäuschungen, psychische Alarmzustände und Ängste ziehen sich durch die ebenso mutigen wie introspektiven Texte. Warum sie damit einen Nerv getroffen und eine Nähe zu ihren Fans aufgebaut hat, lässt ein Statement ihrer Mutter Maggie Baird erahnen. In dem sehenswerten, für das Verständnis des Albums aufschlussreichen Dokumentarfilm „The World´s A Little Blurry“ (Apple TV+), sagt sie: 

„Ich glaube, die Leute machen es den Teenagern wirklich schwer, weil sie denken: ‚Oh, sie sind privilegiert und haben es so leicht. Und sie tun so, als ob sie deprimiert wären‘. Nein, es gibt im Moment eine Menge Gründe, um deprimiert zu sein.“

Jedenfalls ist damals zwischen Billie Eilish und ihren Anhänger:innen eine kraftvolle Verbindung entstanden, die bis heute anhält. Konzerte von Billie Eilish, das zeigen zahllose Videos auf YouTube, sind emotionale Achterbahnfahrten für die Besucher:innen. Phänomenal. Und das ist auch das richtige Attribut für die musikalische Qualität, die Billie Eilish und Bruder Finneas auf dem Album abliefern. 

Berührend-delikater Gesang

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wo ich mit meiner Begeisterung über die Tracks anfangen soll. Ich beginne mit der Produktion und den Arrangements: Wie Finneas‘ moderne Syntheziserklänge, akustische Gitarre und Piano geschickt gewählte Soundeffekte und Samples zusammenbringt, ist zuweilen magisch. Wer will, kann ja mal versuchen, zum Bass-Fundament von „Bad Guy“ NICHT tanzen zu wollen. Jeder Song hat eine individuelle Klangwelt, die einen spezifischen Raum für Billies fantastische Gesangsleistungen aufmacht. Sie kostet zwischen offensiv und delikat-zart jede Nuance ihrer Stimme aus und transportiert ihre Emotionen und Botschaften so eindringlich, dass man beim Zuhören zuweilen erschrickt. Ein Höhepunkt des Albums ist zweifellos „Bury a Friend“, ein düsterer und hypnotischer Song, der von Billie Eilishs Stimme getragen wird und die titelgebende Frage enthält – When we all fall asleep, where do we go? Kaum auszuhalten ist das intensive Ende der Platte: Drei Songs reihen sich in die Abschiedssentenz „Listen before I go / I Love you / Goodbye“, wobei der Auftakt dieses Songdreiklangs aus der Perspektive eines Menschen mit Suizidabsichten geschrieben ist. 

Kompositorisch sind die Stücke auf den Punkt. Abwechslungsreich verbinden Billie Eilish und Finneas klassisches Songwriting mit der heutigen Spotify-Welt, ohne sich zum Büttel der Algorithmen zu machen. Hier liegt sicher die Attraktivität der Aufnahmen für eine altersmäßig fortgeschrittene Zuhörer:innenschaft, die um die aktuelle Musik zuweilen einen weiten Bogen schlägt. Der Regisseur und bekennende Musikafficionado Wim Wenders gibt im Interview der Rheinischen Post zu seinem Film „Perfect Days“ zu Protokoll, in der letzten Zeit habe es nur Billie Eilish geschafft, „ihn mit einem ganzen Album zu überzeugen“. Darauf legen sie und ihr Bruder Finneas es hörbar an: Das Album ist für sie eine Ausdrucksform, eine Leinwand, auf der sie genüsslich ihre Ideen versprühen. Dass dieses beeindruckende Erstlingswerk von den beiden Musiker:innen quasi zu Hause in ihren Schlafzimmern aufgenommen wurde, macht es noch bemerkenswerter. 

Erfreulicherweise hat das Geschwisterduo mit dem Nachfolgealbum „Happier Then Ever“ seine Klasse bestätigt sowie mit Oscar-prämierten Songs für James Bond (No Time To Die) und Barbie (What Was I Made For?) für Furore gesorgt. Aktuell bekommen sich ihre Fans vor lauter Vorfreude auf das dritte Album „Hit Me Hard And Soft“, das Mitte Mai erscheinen soll, nicht mehr ein. Kann ich gut verstehen, und meine vorfreudige, gespannte Erwartung will ich keineswegs verhehlen.

Weitere Anspieltipps: You should see me in a crown // When the party’s over // All the good girls go to hell

Verfügbarkeit auf Vinyl: problemlos