Nachdem John Coltrane die viersätzige Jazzsuite komponiert hatte, sei er die Treppen ihres Hauses heruntergestiegen wie einst Moses vom Berg Sinai. So erinnerte seine Ehefrau Alice Coltrane später den Moment, als ihr Mann der Welt im Jahr 1965 eine der bedeutendsten Musikwerke des 20. Jahrhunderts schenkte: „A Love Supreme“, ein Album mit einer universellen, über die Grenzen jeder Religion strahlenden Spiritualität.

Angesichts dieser fantastischen Tour de Force, diesem klanggewordenen Gospel, kann ich mir das Bild tatsächlich konkret vorstellen: Coltrane umgeben von einer Aura, gemessenen Schrittes auf dem Weg nach unten, den entrückten Blick in die Ferne gerichtet … In Händen hält er seine eigenen Gebote, festgehalten auf einem Notenblatt, auf dem Hinweise zu Tonarten sowie Regieansagen wie „Horn-Solo“, „Melody“ oder „Musical Recitation of Prayer“ zu lesen sind. Gemeint ist das Gebet, das auf der Innenseite des Plattencovers abgedruckt ist. Kein großes Gedicht, aber inbrünstig. 

Ein Gospel in vier Sätzen

Aus den kargen Notizen, wie sie im modalen und im Free Jazz üblich wurden, wirkt Coltrane mit seinen fantastischen Mitstreitern ein musikalisches Wunder. Die flüsternden, klagenden und bittenden Rufe, ja Schreie seines Tenorsaxophons werden in die Welt getragen von einer der besten Rhythmus-Sektionen der Jazz-Geschichte. McCoy Tyner am Piano, Jimmy Garrison am Kontrabass und der unvergleichliche Elvin Jones am Schlagzeug setzen das Maß und schüren das Feuer, mit dem Coltrane durch die Sätze Acknowledgement/Annerkennung, Resolution/Entschluss, Pursuance/Streben und Psalm fegt. Jeder Musiker hat seine großen Momente auf der Platte, Schlagzeuger Jones etwa mit einem ausgedehnten Solo zu Beginn des dritten Satzes. Es ist eine ekstatische Reise, die dem typischen Ablauf eines Gospelgottesdienstes folgt und in Satz vier, dem Psalm, alles Dingliche und Weltliche in einem Meer aus Gefühlen und Klängen hinter sich lässt.

Spiritueller Kraftakt

A Love Supreme. Wenn es Coltrane möglich ist, aus dem Nichts eine fast mit Händen greifbare spirituelle Kraft zu beschwören, dann will ich gerne glauben, dass es eine Energie gibt, die sich dem logischen Denken entzieht und uns alle verbindet. Zumindest für die gute halbe Stunde, die zwischen dem Gongschlag zum Auftakt der Platte bis zum Verklingen des letzten Tons vergeht. Mir geht es dann ein wenig, wie es Rainer Maria Rilke in seinem Stunden-Buch beschreibt:

„Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.“

Rainer Maria Rilke

Oder nichts von alledem. Ob ich es je herausfinden werde? Jedenfalls schicke einen Dank ins Universum oder meinetwegen auch in den Himmel, dass der geniale Toningenieur Rudy van Gelder die Aufnahmen zu „A Love Supreme“ überwachte. Der Sound der Platte ist famos. 

Übrigens, die Kirche aus der Überschrift zu diesem Beitrag gibt es wirklich. Die St. John Will-I-Am Coltrane African Orthodox Church in San Francisco bezieht sich spirituell auf das Wirken von John Coltrane, hält einmal im Monat A-love-Supreme-Meditationen ab und hat besagtes Gebet zu ihrem liturgischen Leitsatz auserkoren: I have seen God – I have seen ungodly – none can be greater – none can compare to God. 

Na dann – Amen. 

Verfügbarkeit auf Vinyl: problemlos, besonders zu empfehlen ist die audiophile Pressung von Acoustic Sounds aus dem Jahr 2020. Im Jahr 2021 erschien zudem „A Love Supreme Live in Seattle“. Das Coltrane-Quartett wird ergänzt von Pharoah Sanders (Tenorsax), Carlos Ward (Altsax) und Donald Garrett (Bass). Das Impulse!-Plattenlabel erfuhr erst 2020 von der Existenz dieser Aufnahme aus dem Oktober 1965 und ließ sie restaurieren.