Gegen Ende seiner Karriere gelang Miles Davis (1926 – 1991) mit „Tutu“ noch einmal ein großer Wurf. Das haben weite Teile seines Publikums und viele Kritiker damals, 1986, nicht so gesehen. Und auch heute noch haben manche Musikliebhaber mit der Spätphase des Trompeters ihre liebe Mühe. Zu nahe an den künstlich verklebten Sounds der 1980er-Jahre, zu nah an am Pop, anbiedernd an ein jüngeres Publikum – so lauteten die Einwände damals, so klingen sie bisweilen noch heute.

Doch die Schar derer, die auf „Tutu“ mit verständnislosem Kopfschütteln reagieren, ist mit der Zeit immer kleiner geworden. Zur um sich greifenden Milde gegenüber den – mit Verlaub: sensationellen – Aufnahmen trägt die Einsicht bei, dass Davis sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder an populäre Musik angelehnt und seinen Sound aktualisiert hat. Man denke an „Someday my Prince will come“, ein harmloses Disney-Liedchen, das er Anfang der 1960er-Jahre im Zusammenspiel mit John Coltrane zu einem Klassiker des Jazz umformte. Oder an seinen Aufsehen erregenden Flirt mit Funk und Rock Ende der 1960er-Jahre, der zu „Bitches Brew“ und einem neuen Genre führte: Fusion. Populäre Musik, das war für Miles Davis immer eine Brücke, über die er sein Publikum in tiefere Gefilde mitnehmen konnte. 

So lässt er auf „Tutu“ lustvoll sein beseeltes Spiel, für das er mit einem Grammy ausgezeichnet wurde, mit den Klangwelten des ausgehenden 20. Jahrhunderts zusammenprallen. Wie er sich mit dem Ton seiner Trompete der Wucht einer rhythmisch pulsierenden Produktion entgegenstellt, das wirkt mitunter wie ein menschliches Strahlen inmitten eines Maschinenparks der Großindustrie. 

Das Genie des Marcus Miller

Zu verdanken ist dieser Geniestreich jedoch nicht dem Maestro selbst, sondern dem Bassisten und Arrangeur Marcus Miller. Er hatte als Jungspund Miles Davis bereits bei dessen Comeback Anfang der 1980er-Jahre begleitet und schrieb, 26jährig, für „Tutu“ fast alle Stücke. Miller legte als kongenialer Partner die synthezisergetriebenen Grooves unter die Trompetensoli von Miles Davis. „Ich habe versucht, Melodien zu finden, die diesem gloriosen Sound gerecht wurden“, hat Marcus Miller über die Zusammenarbeit gesagt. 

Dass die Musik auf „Tutu“ mit Jazz nur noch am Rande zu tun hatte, wird Davis herzlich egal gewesen sein. Er bezeichnete sein spiel damals nur noch als „social music“, wie auch im Biopic „Miles Ahead“ zu hören ist. Und wie wir in dem Film auch erfahren, war er ziemlich genervt davon, immer auf Meisterwerke wie „Kind of Blue“ aus den späten 1950er- und 1960er-Jahren reduziert zu werden.

„Tutu“ spiegelt das permanente Bestreben Davis´, in der Gegenwart relevant zu bleiben. Deshalb covert er hier in blitzender Manier „Perfect Way“ von der Popband Scritti Politti und verwandelt das Stück in ein Feuerwerk. Ein Überraschungscoup sondergleichen und viel glaubwürdiger als andere seiner 80er-Jahre-Coverversionen. Fast hätte es auf „Tutu“ auch eine Kollaboration mit dem damals sensationell erfolgreichen Prince gegeben, aber das Ergebnis des Zusammenspiels überzeugte die Beteiligten dann doch nicht. 

It was important that, although I played most of the instruments on the album, that the sound of Miles’ horn was the centerpiece. I tried to find melodies that were worthy of his glorious sound. The result, in my opinion, is a pretty good representation of what the eighties had to offer. 

Marcus Miller über „Tutu“, Interview mit JazzTimes

„Tutu“, auf dem unter anderem auch der Perkussionist Paulinho de Costa und Multiinstrumentalist George Duke zu hören sind, ist über die Jahrzehnte dann doch zu einem wegweisenden Werk herangereift. Wenn man sich das Album „On“ des deutschen Trompeters Nils Wülker anhört oder Kamasi Washingtons Opus Magnum „Heaven & Earth“, dann wird der langwellige Einfluss von „Tutu“ sofort ohrenfällig. Mit „Tutu“ hat Miles Davis einmal mehr das musikalische Spielfeld vergrößert. Und wenn „Tutu“ möglich war, dann ließen sich viele Musikstile in den Jazz integrieren. Electronica, Drum´n´Bass, Hiphop … Kein Wunder also, dass junge Jazz- und Hiphop-Musiker*innen in den Aufnahmen bis heute einen musikalischen Referenzpunkt sehen. 

Manifest der Freiheit

Nicht zuletzt hat uns die Haltung, die Davis und Miller mit „Tutu“ vermittelten, bis heute etwas zu sagen. Als das Album erschien, existierte noch der Eiserne Vorhang. Und in Südafrika war das skrupellose und brutale Apartheid-System längst nicht überwunden. Aber es gärte, und viele Künstler*innen engagierten sich für das Ende der Unterdrückung. Mit „Tutu“ gaben auch Davis und Miller ein Statement ab. Sie widmeten das Titelstück dem südafrikanischen Bischof Desmond Tutu und „Full Nelson“ dem damals noch inhaftierten Aktivisten Nelson Mandela

Ganz ohne Worte ist „Tutu“ ein funkensprühendes Manifest für Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte. 

Weitere Anspieltipps: „Backyard Ritiual“ aus der Feder von George Duke, „Tomaas“ und „Hannibal“

Verfügbarkeit auf Vinyl: problemlos; eine Deluxe-Edition enthält eine zweite Platte mit hörenswerten Liveaufnahmen aus dem Jahr 1986.