Elbjazz in Hamburg, das ist der musikalische Beginn des Sommers. Viel früher als die Meteorologen meinen und der Kalender sagt, strahlt die Welt hier in bunten Farben, suchen virtuose Töne auf dem Gelände von Blohm + Voss, in der Elbphilharmonie und von den anderen Spielstätten ihren Weg schnurstracks in die Herzen der Menschen. Versunken lauschen, sachte vor sich hingrooven oder vergnügt tanzen, von einer Spielstätte zur anderen laufen, mal kurz durch den Alten Elbtunnel oder per Schiff auf die andere Seite des Hafens und zur Elphi – diese besondere Atmosphäre gibt es nur hier. Das industrielle Ambiente der Werft mit der Schiffbauhalle, Am Helgen und der „Hauptbühne“ als Spielorte – das ist ganz mein Ding als Kind des Ruhrgebiets. Im Jahr zwei nach der Corona-Pause zeigen sich Stadt, Festival und Wetter wieder einmal von ihrer besten Seite. 

Kennt Ihr Herbie Hancock?

Der Jazz lebt und pulsiert, die Tradition wird zelebriert, neue Trends lassen staunen. Aus dem, was ich von dem vielfältigen Programm am 9. und 10. Juni hören konnte, ragt für mich der Auftritt von DOMi & JD Beck heraus. Anders, überraschend und impulsiv – ganz klar, die Generation Z ist im Jazz angekommen. Erste Aufmerksamkeit verdienten sich die Französin Domitille Degalle (Keyboards) und James Dennis Beck (Schlagzeug) mit YouTube-Videos, mittlerweile kollaborieren sie mit Größen wie Herbie Hancock und Thundercat. Zu zweit lassen sie ein pulsierendes Jazzgewitter auf das Publikum regnen, in dem sie vom Bebop bis zum Drum and Bass irgendwie alles verarbeiten. Jazz nach vorne gedacht, fantastisch. Ok, dass sie das Publikum fragen, ob es denn einen gewissen Herbie Hancock kenne – oder Wayne Shorter oder Jaco Pastorious – sorgt ein wenig für Verwunderung. Das kundige Hamburger Publikum schweigt darüber nonchalant hinweg und nimmt es vergnügt, als die beiden am Ende ihres Sets ohne Gruß oder Dank von der Bühne verschwinden. Diese Jugend! Das erste Album von DOMi & JD Beck – „Not Tight“ – ist auf dem Bluenote-Label erschienen und auf Vinyl verfügbar.

Die zweite Überraschung ist vieles, nur kein Jazz. Dope Lemon, ein Projekt des australischen Singer-Songwriters Angus Stone, liefert einen derart lässigen Sound – es ist, als ob das Leben plötzlich ganz einfach erscheint. Irgendwo zwischen Beach BoysTom Waits und Neil Young reklamiert Stone musikalisch einen Platz für sich und verbreitet mit Swag, Swing und einem Hauch Psychodelia fast Glückseligkeit. Manchmal ist es jammerschade, dass die Konzerte beim Elbjazz nach einer Stunde enden. Dope Lemon hätte ich noch bis in die frühen Morgenstunden zuhören können und war mit diesem Wunsch sicher nicht allein. Am 1. September erscheint mit „Kimosabé“ ein neues Album der Truppe. More Power to Dope Lemon! 

Begeisterung im zweiten Anlauf

Cécile McLorin Salvant auf der Hauptbühne bei Blohm + Voss. Foto (c) Elbjazz / Christoph Eisenmenger

Verzaubernd: Die US-Amerikanerin Cécile McLorin Salvant, Sängerin mit französischen-haitianischen Wurzeln. Ihr Aufritt auf der Hauptbühne gleicht mehr einer Performance, was angesichts ihrer bekannten Zuneigung zu Varieté und Musiktheater auch nicht verwundert. Weil es genau mein Gefühl beschreibt, wage ich hier mal ein Zitat-Zitat: „Wenn Salvants Stimme mühelos durch die Oktaven springt, reißt der Himmel auf“, wird die FAZ im Programmheft zu Elbjazz ´23 zitiert. Nun ist der Himmel über Blohm + Voss bereits weit aufgerissen, nämlich strahlend blau, und so gefällt mir die Vorstellung, dass Salvants Stimme noch ein wenig weiter reicht, ad astra, zu den Sternen. Für mich hat dieser Auftritt der dreimaligen Grammy-Gewinnerin etwas Versöhnliches. Im Jahr 2019 habe ich ein Konzert von Cécile McLorin Salvant in der Kölner Philharmonie ziemlich genervt vorzeitig verlassen, ist das zu glauben?! Das passiert mir sehr selten, aber bei mir kamen damals eine Selbstgefälligkeit und Arroganz an, die mir die Laune verdarben. Keine Verbindung mit dem Publikum. Das ist jetzt glücklicherweise völlig anders, und zusammen mit den anderen Hamburger Zuhörer:innen bedanke ich mich mit warmherzigem Applaus. 

Norwegian Wind Ensemble mit Marius Neset und Erlend Skomsvoll,, Elbphilharmonie Großer Saal. Foto: (c) Elbjazz / Claudia Höhne

Mein persönliches Highlight Nummer vier: das Norwegian Wind Ensemble mit dem Saxophonisten Marius Neset. Das Orchester wurde 1734 in der Stadt Halden gegründet, war ursprünglich eine Militärkapelle und wurde in den 2000er-Jahren, wie der Ansager in der Elbphilharmonie erzählt, komplett „entmilitarisiert“. Mit seiner Kombination aus modernen Holz- und historischen Blechblasinstrumenten schafft das Orchester ein einmaliges Klangbild, das sich im Vorjahr mit den Kompositionen und dem Spiel des Trompeter Mathias Eick ebenso ausdrucksstark vernetzt hat wie diesmal mit Nesets Stücken und Interpretationen. Fabelhaft, ergreifend und mit Standing Ovations bedacht. Ich versuche es mal so: Zwei Dutzend Künstler schleudern Farbe auf eine Leinwand – und heraus kommt ein Picasso.

Wollny, Tingvall, Wülker – Daumen hoch!

Und sonst so? Das Michael Wollny Trio legt einen fulminanten Auftritt hin. Von allen Konzerten, die ich in diesem Jahr auf dem Elbjazz höre und genieße, ist es der souveränste und kühnste Wurf. Mit Tim Lefebvre am Bass, Eric Schaefer am Schlagzeug und ihrem 2022er-Album „Ghosts“ im Gepäck geht Wollny auf Eskalationskurs. Sein melancholisch-melodiöses Spiel am Flügel steigert sich ein ums andere Mal zu einem wilden Ritt aus Synthesizer-Sounds, Wollny-Stakkato und seiner freien Bearbeitung der Saiten im Flügel sowie rhythmischen Feuerwerken von Lefebvre und Schaefer – die beide wiederum stoisch den Laden zusammenhalten. Nicht jedem gefällt´s. Einige Zuhörer:innen verabschieden sich vorzeitig von der scène de crime. Ich liebe es, mir steht der Sinn eindeutig nach mehr Geistern, Geistreichem und Wollny´scher Ekstase. 

Michael Wollny auf der Bühne „Am Helfen“. Foto: Elbjazz / Christoph Eisenmenger

Das Tingvall Trio begeistert im Rahmen der Erwartungen und der allgemeinen Zuneigung, die der in Hamburg gründeten Band seit gut 20 Jahren entgegengebracht wird. Der Schwede Martin Tingvall (Piano), der Kubaner Omar Rodriguez Calvo (Kontrabass) und der Deutsche Jürgen Spiegel (Schlagzeug) präsentieren ihr neues Album „Birds“ und spielen sich einmal mehr in die Herzen ihres treu ergebenen Publikums. Luftig, soulig, dramatisch, melodisch – die drei können alles und legen immer wieder Zeugnis vom breiten Appeal des Jazz ab, ohne dass es an irgendeiner Stelle langweilig würde. Es ist ein stetiges Vergnügen, dem Tingvall Trio zuzuhören, und das sehen die Fans in der voll besetzten Schiffbauhalle ganz genauso. Zu ihrem eigenen Erstaunen ernten die Musiker schon beim Soundcheck spontanen Applaus. 

An gleicher Stelle, aber ohne Bestuhlung spielt später am selben Abend auch der Trompeter Nils Wülker, wie Wollny und das Tingvall Trio gern gesehener Stammgast beim Elbjazz. Wülker hat ebenfalls Pop-Appeal, und das merkt man der Begeisterung für seinen Auftritt auch an. Er spielt mit seiner Band eine Liveversion seines fantastischen Albums „Go“ aus dem Jahr 2020, auf dem er sein warmes und melodiöses Spiel mit den Segnungen von Electronica und Synthesizern verbindet. Das kann leicht schief gehen und bemüht klingen, aber auf Platte wie live knüpfen Wülker und seine Mistreiter die Fäden zu einer herrlich nach vorne groovenden Musik zusammen. Mitreißend und von verdientem Applaus begleitet setzt Wülker einmal mehr ein musikalisches Ausrufezeichen. 

Bis zum Elbjazz 2024!

Wenn Elbjazz zu Ende ist und nachklingt, hänge ich unwillkürlich immer auch in einem Defizit. So vieles ist mir wieder entgangen. Konzerte laufen parallel, so dass man eh nicht alles hören kann. Manchmal, so geht es mir, muss ich das Gehörte erst einmal verarbeiten und benötige eine Pause. Und abends wird es mir meist zu viel, weshalb ich mir die klassischen Stimmungsmacher Richtung Mitternacht, in diesem Jahr Meute und die Jazzkantine, regelmäßig verkneife. Aber sogleich stellt sich Vorfreude auf 2024 ein. Fürs nächste Jahr nehme ich mir vor, endlich einmal ein Konzert in der Hauptkirche St. Katharinen zu besuchen und der Young Talents-Bühne vor der Elphi mehr als eine Stippvisite abzustatten – Gelegenheit dazu bietet sich am 7. und 8. Juni 2024. In meinem Kalender sind die beiden Tage schon geblockt. Was auch sonst!

(c) des Aufmacherfotos von der Hauptbühne bei Blohm + Voss: Elbjazz / Ilona Henne