Artemis ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Jagd und die Schwester von Apollon, der ja gerne Liebespfeile verschießt. Dass ein von Frauen geformtes Jazz-Ensemble sich dieser Namensgebung bedient, wirft amüsant die Frage auf, welcher Beute die Gruppe wohl nachstellt? Vielleicht sind sie darauf aus, der nicht wegzudiskutierende Männerdominanz im Jazz einen Blattschuss zu verpassen? Ein Statement in diese Richtung ist die Gründung der Band allemal. Artemis durchbricht verkrustete Stereotype und zeigt treffsicher, dass musikalische Exzellenz kein Geschlecht kennt – sollte das jemals jemand geglaubt haben – und kulturelle Vielfalt den Horizont erweitert.
Bevor ich die Jagd-Metaphorik überreize und mich in Spekulationen verliere, kümmere ich mich besser um die Musik. Die spricht nämlich rundum begeisternd für sich. Da erübrigen sich weitere Fährtensuchen nach möglichen Motivationen. Artemis ist meiner bescheidenen Auffassung nach eine der faszinierendsten Jazz-Formationen der Gegenwart. Mit ihrem gleichnamigen Erstlingswerk hat die Gruppe im Jahr 2020 schon völlig zu Recht für Furore gesorgt. Mit dem Nachfolger „In Real Time“ aus dem vergangenen Jahr, beide Platten sind erschienen auf dem Blue Note Label, hat Artemis noch an Ausdruckskraft hinzugewonnen. Ihr Spiel ist in der Jazz-Tradition der Postmoderne verwurzelt, touchiert mit kreativen Arrangements und überzeugenden Eigenkompositionen die Gegenwart und strebt musikalisch in die Zukunft. Live soll Artemis eine Klasse für sich sein. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, sie auf der Bühne zu erleben.
Pianistin und Komponistin Renee Rosnes darf als Initiatorin und Bandleaderin der Gruppe gelten, die in ebenso generationenübergreifender wie internationaler Besetzung zusammenspielt. Auf beiden Platten vertreten sind neben Rosnes die Schlagzeugerin Allison Miller, die Trompeterin Ingrid Jensen und die Bassistin Noriko Ueda. Auf dem Erstlingswerk sind zudem die Klarinettistin Anat Cohen, die Saxophonistin Melissa Aldana und die Sängerin Cécile McLorin Salvant dabei. Auf „In Real Time“ glänzen hingegen Multiinstrumentalistin Alexa Tarantino (Saxophon, Klarinette und Flöte) und Saxophonistin Nicole Glover und ergänzen das „Kernteam“ der nunmehr als Sextett musizierenden Band. Es wird spannend, welchen Charakter Artemis weiter entwickelt. Ist es eine Gruppe oder gar eine „Super Group“, wie bisweilen geschrieben wird, oder eher ein Kollektiv, eine Plattform, auf der in wechselnden Besetzungen musikalische Ideen verwirklicht werden?
Die Aufnahme „In Real Time“ weckt jedenfalls die Vorfreude auf künftige Kollaborationen dieser und vielleicht auch weiterer fantastischer Musikerinnen. Das Ensemblespiel ist begeisternd, die Horn Section ist eine Attraktion. Stücke wie „Timber“ und „Lights Away From Home“ beeindrucken mit emotionaler Tiefe. Das gesamte Album atmet; besser kann ich den Wechsel aus kraftvollen, rhythmischen Passagen und sanften, introspektiven Momenten nicht ausdrücken. Die Band hat es geschafft, ihr individuelles Können noch organischer zu verweben und dadurch ein kohärentes, originäres Klangbild zu schaffen. Eingestreute Fremdkompositionen aus der Feder von Lyle Mays („Sink“) oder Wayne Shorter („Penelope“) machen sich die Musikerinnen völlig zu eigen. Mein Lieblingsstück: Das dynamische und vor Überraschungen und Soloqualitäten nur so strotzende „Empress Afternoon“. Ein Nachmittag für Kaiserinnen.
Auf meinem Plattenteller ist „In Real Time“ Stammgast. Zeitweilig läuft die Scheibe in „heavy rotation“ mehrmals in der Woche. Von Mal zu Mal entdecke ich neue Nuancen und verstehe die Zusammenhänge noch besser – und bin wahnsinnig neugierig auf die Solowerke geworden.
Zum Abschluss noch ein Fun Fact: Als Namensgeberin steht die Göttin Artemis, die den Griechen auch als Hüterin des Mondes galt, derzeit hoch in Kurs. Nachdem die früheren Mondmissionen der NASA nach Apollo benannt wurden, tragen die Raumfahrtpläne für die kommenden Jahre ihren Namen. Auch die Space Agency weiß: Ambition und Diversität sind einfach ein unschlagbares Team, um nach den Sternen zu greifen.
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…