Sir Elton John ist in Tränen aufgelöst, genervt, subaggressiv, schmettert sogar seine Kopfhörer aufs Klavier und kommentiert sein Verhalten selbst: „ein Alptraum“. Seine Mitstreiter:innen, allen voran seine Kooperationspartnerin Brandi Carlile, aber auch sein genialer Songwriting-Partner Bernie Taupin und der neue Lieblingsproduzent vieler Rockstars, Andrew Watt, hatten es sicher nicht leicht mit der Diva. Man kann die emotionsgeladene und alles andere als konfliktfreie Genese des neu erschienen Albums „Who Believes in Angels“ auf Youtube nachvollziehen. Letzten Endes haben es die Engel wohl gut gemeint mit den Musiker:innen und auch mit uns, den Zuhörer:innen. Irgendwann haben sich die Bremsen gelöst und eine Musik hervorgebracht, wie sie nicht besser in diese verflixt verquere Zeit passen könnte.
Das Album rockt und rollt; das hat Qualität in Komposition und Lyrik; das hat Haltung und Bedeutung. Hier Elton John, König der witzigen Brillen und flamboyanten Outfits, gleichermaßen „Captain Fantastic“ und „Madman across the water“, um zwei seiner legendäre Albumtitel aus den 1970er-Jahren aufzugreifen. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen im Jahr 2023 ist er 76 Jahre alt und will der Welt noch einmal zeigen, was er auch im hohen Alter noch draufhat. Dort Brandi Carlile, Superstar der Alt-Country-Szene, vielfache Grammy-Gewinnerin, Begleiterin und Vertraute von Joni Mitchel. In Deutschland und Europa ist sie nicht so bekannt wie in Übersee, aber das dürfte sich nun ändern.
Auf dem Album finden John und Carlile als zwei verwandte Seelen zueinander, die sie im Privatleben bereits seit vielen Jahren sind. Die Familien der beiden gleichgeschlechtlich verheirateten Stars sind eng befreundet; sie bezeichnen sich jeweils als Inspiration – und spornen sich bei den Aufnahmen gegenseitig an. Nach der ersten Ankündigung ihrer Kollaboration hoffte ich inständig, dass diese musikalische Liaison gut funktionieren möge. Sicher war ich mir da aber nicht. Bei generationsübergreifenden Projekten gibt es eigentlich nur Hop oder Top. Entweder wird es superpeinlich oder – wie ich nach einigen Wochen mit diesem Album überzeugt schreiben kann – grandios.
Hoch musikalische Statements
Gemeinsam verknüpfen Carlile und John sowie ihren Mitstreiter:innen die Jahrzehnte, verbinden Songpower und Sounds vergangener Musikepochen mit der Gegenwart. Andrew Watt hat dafür ganz klar ein Händchen, wie er es bereits auf „Hackney Diamonds“ mit den Rolling Stones unter Beweis stellen konnte. Die Stücke auf „Who Believes in Angels“ haben eine persönliche Note und sind erfreulich vielfältig: Mit ihrem beherztem Rock´n´Roll in „Little Richard´s Bible“ huldigt das Duo einem Role Model von Elton John. Im Titelstück stellen die beiden essentielle Fragen an das Leben. Bernie Taupin hat mit „When this Old World is Done With me“ einen berührenden Text geschrieben, der Sir Elton mit seiner Sterblichkeit konfrontiert und aus der Fassung bringt. Alles funktioniert und avanciert zu einem Gesamtstatement, das viel über Individualität, Persönlichkeit und Lebensmut ausdrückt. Das von Brandi Carlile gesungene Lied „Swing for the Fences“ ragt hier heraus. Ein Mutmacher, eine Selbstvergewisserung für die LGBTQ+-Community, die in vielen Ländern – und zwar längst nicht nur in den rechts-autoritär geführten Staaten – einen furchtbaren Backlash erlebt und wieder zunehmend diskriminiert wird.
„I started thinking I´m a gay woman, Elton´s a gay man and we both have kids and families and our dreams have come true. It would be cool to write an anthem for young kids that says, ,Go, go, don´t let anything hold you back.“
Brandi Carlile in den Liner Notes des Albums über „Swing for the Fences“
Und wie viel Talent, Kompetenz und Erfahrung auf dieser Platte zusammenkommen! Neben den vier erwähnten Protagonist:innen muss unbedingt die Band erwähnt werden. Während Elton John natürlich in die Tasten haut und Brandi Carlile sowie Andrew Watt die Gitarren übernehmen, sorgt anerkannter Rockadel für eine exzellente musikalische Darbietung. Das Schlagzeug bedient niemand Geringeres als Chad Smith, Mitglied der Red Hot Chili Peppers, und bildet mit dem Ausnahmebassisten Pino Palladino eine unerschütterliche Rhythm Section. Keyboarder Josh Klinghofer sowie Saxophonist James King und Trompeter Ron Blake setzen Akzente – egal, ob man nun fußwippend den Uptempo-Nummern oder nachdenklich den Balladen folgt.
Top-Qualität als Vinyl
Nicht zuletzt, und das erfreut das Plattensammlerherz, kommt die Vinylausgabe als überzeugendes Gesamtpaket daher. Das Gatefold und die Innencover sowie das Begleitheft sind hochwertig gestaltet und präsentieren sich als knallbunte Feuerwerke. Wie gut das schlichtweg tut in diesen grauen Zeiten! Meine LP klingt, obwohl als dreifarbiger Propeller in Rot, Gelb und Blau gepresst, herausragend. Null Knackser, keine Produktionsschwächen und keine Höhenschläge – das ist leider bei Neuausgaben so selten geworden, dass es bei der fantastischen „Who Believes in Angel“ durchaus mal gelobt werden darf.
Bleibt nur eine Frage für mich unbeantwortet: Gibt´s noch eine Zugabe? Schön wär´s! Aber, um zu guter Letzt eine bereits erwähnte Songzeile aufzugreifen… Wer weiß schon, was die Engel mit uns vorhaben?
Weitere Anspieltipps: The Rose of Laura Nyro/The River Man/Someone to Belong to
Verfügbarkeit auf Vinyl: problemlos
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…