Diese Platte ist eine Überlebende. In den Händen halte ich eine deutsche Pressung aus dem Erscheinungsjahr 1971, zu identifizieren an dem außergewöhnlichen Reißverschluss mit dem großen, durch das kreisrunde Loch und die ausgestanzte Dreiecksform gekennzeichneten Schieber gab es nur einmal in der langen Veröffentlichungsgeschichte dieses ikonischen Albums: Sticky Fingers. The Rolling Stones.

Die LP mit dem Cover von Popart-Ikone Andy Warhol (1928–1987) und die erste mit der frechen Zunge von Designer John Pasche als Markenzeichen ist die beste Stones aller Zeiten. Meine Meinung. Das Cover – verlebt. Einmal gebadet in Cola oder Bier. Die Kanten sind schwer angestoßen; dieses Exemplar ist zahllose Male aus dem Regal genommen und wieder hineingeschoben worden. Das Vinyl – erstaunlich. Deutlich sichtbare Schrammen und Kratzer auf beiden Seiten. Aber die LP spielt prima, ohne laute Knackser und ohne Hänger. Das leise vernehmbare Knistern – na ja, so klingt die Patina eines langen Plattenlebens.

Ich stelle mir vor, dass sie auf Partys immer wieder gespielt und achtlos beiseitegelegt wurde, um ihren Platz auf dem Plattenteller für den nächsten Kracher zu räumen. Keine Chance für den pfleglichen und peniblen Umgang mit LPs, der uns Sammlerinnen und Sammlern heute so ungeheuer wichtig ist. Nix da mit „kritischem Hören“, mit audiophilen Hörsessions. Scheiben wie diese spielten den Soundtrack des Alltags, gehörten zum Tagesablauf dazu wie Messer, Gabel und Löffel. Sie waren und sind Rock´n´Roll, mehr als jedes Reissue heute und auch mehr als für sündhaft teure Erstpressungen in makelloser Near Mint Condition.

Zu mir ist diese Überlebende als Weihnachtsgeschenk gekommen, worüber ich mich tierisch freue. Mit „Sticky Fingers“, ich muss sie so um 1980 gekauft haben, bin ich als junger Fan sim Rock´n`Roll gelandet. New Wave und New Romantics, die Modeströmungen jener Zeit, waren nicht mein Ding. Beatles, Rolling Stones, Doors, Springsteen, Bob Dylan, Jethro Tull, U2 und The Police – das war mein Kosmos und „Sticky Fingers“ der Fixstern. Mein damaliges Exemplar ist mir im Laufe der Zeit abhanden gekommen … dass die Scheibe jetzt wieder in meiner Sammlung steht, vermittelt ein richtig gutes Gefühl. 

Zur Musik: Verstärkt durch den neuen Gitarristen Mick Taylor, der 1969 das verstorbene Gründungsmitglied Brian Jones ersetzte, laufen die Stones mit „Sticky Fingers“ zu Hochform auf. Das Songwriter-Duo Mick Jagger/Keith Richards zieht alle Register. So gehören das herrlich ausufernde „Can´t you hear me knocking“, das trocken abgelieferte „Sway“ und das elegische „Moonlight Mile“ zu den herausragenden Titeln ihres Gesamtkatalogs. Auf der LP gibt´s keinen schwachen Titel: „Sister Morphine“, geschrieben von Marianne Faithfull und Mick Jagger, ist herzzerreißend – und kontrovers wie einige Stücke auf dem Album. Es erzählt von einem Unfallopfer, von einem Mann, der im Sterben liegt und nach betäubendem Morphium ruft … Und gleichzeitig ist sonnenklar, dass es hier auch um Drogenmissbrauch geht. Ry Cooder steuert als Gastmusiker die Slidegitarre bei.

Der Country-Einschlag von „Sticky Fingers“ kommt vor allem auf „Wild Horses“ zum Tragen. Dieses Stück und „Dead Flowers“ zählen bis heute zu den schönsten Balladen der Gruppe. Der Blues „You Gotta Move“ und das melancholische „I got the Blues“ mit dem fetten Bläsersatz von Bobby Keys (Saxophon) und Jim Price (Trompete) sind brillant. Überhaupt – Produzent Jimmy Miller organisiert ein perfektes Zusammenspiel. Charlie Watts am Schlagzeug und Bill Wyman am Bass legen ein unerschütterliches Rhythmus-Fundament und sorgen für ein stoisch-präzises Timing, damit sich Mick Jagger, Keith Richards und Mick Taylor nach Herzenslust austoben können. 

Ein Song hat´s nicht überlebt

Und dann ist da natürlich „Brown Sugar“, Nummer-1-Hit in den USA und über Jahrzehnte eine sichere Bank auf den Stones-Konzerten. Wenn da nur dieser Text nicht wäre … „Brown Sugar“ ist der Song, der nicht überlebt hat. Es geht um Sklaverei, um sexuellen Missbrauch an Frauen, um brutale Machtausübung. Das mochten die Stones gerne als Kritik an den Zuständen zu Zeiten des Sklavenhandels interpretiert wissen – was es nicht besser machte.

Zu hymnisch, zu jubilierend ist die Musik mit ihrem Drive und dem Power der Bläsersätze, während die voyeuristischen und sexistischen die Lyrics völlig inakzeptabel sind. Eine dumme und plumpe Provokation um der Provokation willen. Mick Jagger gab schon in den 1990er-Jahren zu, dass er den Text besser nicht so geschrieben hätte. Musikalisch ist „Brown Sugar“ ohnehin so gut, dass Jagger auch das Telefonbuch hätte singen können, und die Fans wären im Konzert trotzdem ausgerastet. Es ist schwer nachvollziehbar, dass sich die Stones erst im Jahr 2021 genötigt sahen, den Song aus ihrer Tour-Setlist zu streichen

Trotz dieses Makels reiht sich „Sticky Fingers“ in einen der großartigsten Läufe ein, den eine Rockband je hatte. In jener turbulenten Zeit – von 1968 bis 1972 – brachten die Rolling Stones innerhalb von nur vier Jahren nacheinander vier epochale Alben heraus: Beggar`s BanquetLet it BleedSticky Fingers und Exile on Main Street. Ein Hochamt des Rock´n´Roll in vier Sätzen.

Anspieltipps: von Anfang bis Ende

Verfügbarkeit auf Vinyl: Zahllose Pressungen gibt es natürlich nur gebraucht. Neu ist ein Half Speed Master aus dem Jahr 2021 zu haben, wie alle jüngeren Ausgaben ohne echten Reissverschluss.