Warum werden für sie keine roten Teppiche ausgerollt? Warum ist sie nicht Top-Act auf den großen Jazzfestivals der Welt? Warum reißen sich die Musiklabels nicht (mehr) um sie? Ich verstehe es nicht. Wenn eine Jazz-Musikerin all diese Meriten, die Anerkennung und den Applaus auf großer Bühne verdient hätte, dann die US-Amerikanerin Patricia Barber. Ihre Einspielung „Higher“ von 2019 ist quasi im Eigenverlag erschienen. Unfassbar für eine musikalisch so ausgesprochen mutige, eigenständige und wohl auch eigensinnige Pianistin und Sängerin, Komponistin und Texterin.
„I probably would sell more records if I did things a different way, but then I wouldn’t be quite happy“, hat sie von sich selbst gesagt. Was immer der Grund für die Zurückhaltung des Musikbusiness‘ auch sein mag: In meiner Auffassung lebt der Jazz mehr als jedes andere Genre von der Freiheit und dem Individualismus der Musiker:innen. Die Labels sollte diese Eigenheiten aushalten und fördern können. Bei Patricia Barber sind sie Grundlage großartiger Musik und reicher Lyrik.
„I probably would sell more records if I did things a different way, but then I wouldn’t be quite happy.“
Patricia Barber
Trefflich lässt sich darüber diskutieren, welches ihrer Alben in diesem Blog als erstes vorgestellt werden sollte. Ich habe mich für „Mythologies“ aus dem Jahr 2006 entschieden. Auf dieser Aufnahme kommt das Zusammenspiel der vielfältigen Talente von Patrica Barber besonders zur Geltung. „Mythologie“ ist im Kontext eines Guggenheim-Stipendiums entstanden und auf dem legendären Jazzlabel Blue Note erschienen. Barber greift auf der Platte Motive aus den „Metamorphosen“ des altrömischen Dichters Ovid auf und glänzt mit ihrer Fähigkeit, Jazz einem breiten Publikum zugänglich zu machen und mit den Webmustern der Popmusik zu verbinden.
Insbesondere zu hören ist dies im ergreifenden Liebeslied „Narcissus“, bei dem aus jedem Vers in sanft verkopfter Barber-Sprache die Sehnsucht spricht:
Brazenly object, willingly subject
Patricia Barber, „Narcissus“
As sunlight through the moon
Like a soliloquy or two
Forever as one, me and you
Textlich nimmt sich Patricia Barber alle Freiheiten und treibt die antiken Verwandlungen weiter. Es lohnt sich, genau hinzuhören. Es sind Stücke über das Verlangen und das Scheitern, Parabeln über die Wellenbewegungen des Lebens. Das Stück „Icarus“ – in Ovids Dichtung jener übermütige griechische Jüngling, der mit seinen wächsernen Flügeln zu nah an die Sonne flog – widmet sie beispielsweise der großen Nina Simone:
Moonshine drunk, you’re smug as the sun
Patricia Barber, „Icarus“
larger than life, baby you’re the one!
with wings, rising over the wall
falling out of the middle, away from us all
it was a perfect design
a boldfaced attempt to fly
Ein unverschämter Versuch zu fliegen – das sind Patricia Barbers „Mythologies“ auch. Dass die Flügel tragen, ist auch ein Verdienst der formidablen Band mit Neal Alger an der Gitarre, Michael Arnopol am Bass, Eric Montzka am Schlagzeug sowie Jim Gailloreto am Alt- und Sopransaxophon. Sie rotieren dicht um das Pianospiel und den so unnachahmlich phrasierten Gesang der Chefin, flirten frech mit verschiedenen Genres der Popmusik und verankern die Höhenflüge doch tief in Jazz und Blues. Herz, was willst du mehr?
Weitere Anspieltipps: „Pygmalion“, „Narcissus“ und „Whiteworld“.
Verfügbarkeit auf Vinyl: Von „Mythologies“ existiert eine audiophile, vergriffene Ausgabe von Mobile Fidelity Sound Lab (MoFi).
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…