Nachdem Bruce Springsteen in diesem Jahr bereits sage und schreibe sieben bislang unveröffentlichte Alben herausgebracht hat – als Tracks II: The Lost Albums betitelt –, war die Hoffnung groß: Da muss noch etwas kommen. Fans und Expert:innen vermuteten seit langem, dass irgendwo der heilige Gral, Electric Nebraska, in den Regalen schlummerte. Aber sicher war sich niemand; Springsteen selbst verneinte noch in diesem Jahr die Existenz dieser Aufnahmen. Boom – jetzt it es da, als Teil eines Boxsets: das ikonische, im Original akustische Album in der alternativen Fassung der E-Street-Band. Und es bringt vieles, worauf wir lange gewartet haben. Aber der Reihe nach …
Springen wir zurück ins Jahr 1980, als Bruce Springsteen seinen Ruf als „Zukunft des Rock´n´Roll“ mit dem Doppelalbum The River festigte. Die Singeauskopplung „Hungry Heart“ bescherte ihm und der E-Street-Band einen ersten Hit. Die meisten Fans, mich eingeschlossen, erwarteten als nächstes Album eine Fortsetzung der gut geölten Rockmusik, die zum Markenzeichen Springsteens geworden war. Weit gefehlt.
Mit Nebraska erschien im Jahr 1982 eine nervenaufreibende Platte. Minimalistische Arrangements, akustisch und in bester Folktradition, von Springsteens solo in seinem Schlafzimmer aufgenommen, roh und ungeschönt. Über das grimmige Kopfkino von Nebraska habe ich hier im Blog Auslaufrille bereits geschrieben. Songs wie „Johnny 99“, „Nebraska“ oder „Reason to Believe“ lassen mir auch mehr als 40 Jahre später die Nackenhaare zu Berge stehen.
Dass Springsteen damals auch mit der E-Street-Band Songs für Nebraska aufgenommen hatte, war lange bekannt. Wie umfangreich die Sessions waren, lag jedoch im Nebel sich widersprechender Aussagen der Musiker und Wegbegleiter. Jetzt sind wir schlauer. Springsteen und die E-Street spielten eine ganze Reihe von Songs ein, jedenfalls genug, um „Electric Nebraska“ im Kontext eines Boxsets zu veröffentlichen. Sechs der ursprünglich zehn Lieder sind im E-Street-Sound zu hören. Keine Frage, die Band nimmt die verstörenden Vibes ihres Chefs auf, ihr Spiel ist rau, flehend und wütend. So hat man sie weder zuvor noch jemals danach gehört. Aber Hand auf´s Herz, an die Intensität von Springsteen intimer Heimsession reichte das Ergebnis nicht heran. Nebraska in seiner ursprünglich-intimen Version zu veröffentlichen, war im Jahr 1982 definitiv die richtige Entscheidung.
Ganz anders und doch verwoben:
„Nebraska“ und „Born in The USA“
„Electric Nebraska“ zeigt indes eindrucksvoll, was Springsteen und die Band damals alles am Köcheln hatten. In den Sessions wurden auch Songs eingespielt, die später, im Jahr 1984, das Grundgerüst für den Welterfolg mit dem Album Born in the USA legen sollten. Spannend ist unter anderem die frühe Version des Titelsongs „Born in the USA“. Sie ist hier im Gewand eines echten Protestsongs zu hören und nicht in der allseits bekannten, hymnenhaften Hochpolitur. Insgesamt acht der Stücke von „Born in the USA“ sollen im Kontext der Nebraska-Veröffentlichung von der Band aufgenommen worden sein. Neben „Born in the USA“ sind „Working on the Highway“ (akustisch) und „Downbound Train“ (akustisch wie elektrisch – und beide Male kaum wiederzuerkennen) in dem neuen Boxset verewigt. Fantastisch.
Ob der geniale Manager Jon Landau 1982 bereits den Masterplan verfolgte, auf das zurückgenommene Nebraska den Kracher „Born in the USA“ folgen zu lassen? Zuzutrauen ist es dem gewieften Taktiker allemal. Der Rest ist Geschichte. Zwei Jahre nach Nebraska kam das Album „Born in USA“ heraus. Die Inszenierung inklusive Coverfoto war marketingtechnisch kaum zu überbieten und der Effekt maximal. Bruce-Mania. Mehr Kontrast als zwischen „Nebraska“ und „Born in the USA“ war kaum möglich. Auf der folgenden Tour habe ich den Boss und die E-Street-Band im Jahr 1985 im Frankfurter Waldstadion live gesehen. Drei Stunden betreuter Wahnsinn, die zahlreich zum Konzert gepilgerten Angehörigen der US Army und Air Force gerieten außer Rand in Band. Schon damals beschlich mich das Gefühl: Den kritischen Sinn des Songs „Born in the USA“ haben viele geflissentlich überhört oder gar nicht wahrgenommen. Die jetzt vorliegende Version von „Electric Nebraska“ lässt keinen Zweifel an seiner Bedeutung aufkommen.
Ob akustisch im Original oder elektrisch – Nebraska ist ein Album der schmerzhaften Wahrheiten.
Anspieltipps von Electric Nebraska: Born in the USA / Nebraska / Johnny 99
Songlisten im Vergleich
| Nebraska im Original | „Electric Nebraska“ |
| Nebraska | Nebraska |
| Atlantic City | Altlantic City |
| Mansion on the Hill | Mansion on the Hill |
| Johnny 99 | Johnny 99 |
| Highway Patrolman | Downbound Train |
| State Trooper | Open All Night |
| Used Cars | Born in the USA |
| Open All Night | Reason to Believe |
| My Father´s House | |
| Reason to Believe |
Was bringt das Boxset Nebraska 82 mit vier Vinyl-LPs oder alternativ mit vier CDs, jeweils plus Blue-ray?
- ein Remaster des Originalalbums
- die Electric Nebraska-Sessions mit Bandversionen ausgewählter Songs
- Solo-Outtakes mit rarem Material und bislang unveröffentlichten Tracks
- eine aktuelle Live-Einspielung des Albums von Bruce Springsteen
- der Live-Aftritt als Video auf Blu-ray.
Alles sehr, sehr hörenswert. Daumen hoch für den Boss!

[…] von Springsteens solo in seinem Schlafzimmer aufgenommen, roh und ungeschönt. Über das grimmige Kopfkino von Nebraska habe ich hier…
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…