Ein beherzter Griff ins Archiv – warum ist eigentlich niemand früher darauf gekommen? Es bedurfte erst des genialen Einfalls des Teams um Chad Kassem, dem Inhaber des audiophilen Reissue-Labels Analogue Productions, um diese Aufnahmen in gebührender Qualität hören zu können. Die Rede ist von Birth of the Blue, Resultat einer Session im Mai des Jahres 1958, als Miles Davis zum ersten Mal mit genau der Besetzung im Studio war, die gut ein Jahr später Kind of Blue einspielen und damit Musikgeschichte schreiben sollte.
Zugegeben, vom wegweisenden modularen Jazz dieses Meisterwerks ist die traditionellere, Mitte Dezember 2024 erschienene „Birth of the Blue“ ein Stück weit entfernt. Aber Miles Davis (Trompete), John Coltrane(Tenorsaxophon), Julian „Cannonball“ Adderley (Altsaxophon), Bill Evans (Klavier), Paul Chambers (Bass) und James Cobb (Schlagzeug) bei diesem frühen Zusammentreffen zuzuhören, entpuppt sich als pures Vergnügen. Die Standards „On Green Dolphin Street“, „Stella by Starlight“ und „Love for Sale“ sowie Davis´ Eigenkomposition „Fran-Dance“ bekommen durch das charaktervolle Solospiel der Musiker einen wunderbaren Glanz. Die Aufnahme ist geprägt von eleganter Melodieführung, subtiler Dynamik und Emotionalität im Ausdruck. Die individuellen Zugänge zur Musik sind deutlich wahrnehmbar und lassen die Zuhörerinnen und Zuhörer erahnen, warum gerade dieses Ensemble noch zu Größerem fähig sein wird.
Analogue Productions macht alles richtig
Dass erst Analogue Productions auf die Idee gekommen ist, die Aufnahmen als geschlossenes Album zu veröffentlichen – kaum zu glauben. Die Einspielungen sind weithin bekannt, also kein „ach so überraschender“ Fund in irgendwelchen Archiven. Die Stücke wurden aber in den vergangenen mehr als 60 Jahren lediglich genutzt, um bedeutungslose Kompilationen aufzufüllen. Niemand hat ihren Wert und ihre Güte erkannt. Auf Grundlage der Originalmasterbänder hat nun Vic Anesini von den Battery Studios in New York den neuen Stereomix erstellt, Matthew Lutthans von The Mastering Lab hat das audiophile Kleinod gemastert. Gepresst werden die Scheiben in Topqualität bei Quality Record Pressings, einem Schwesterunternehmen von Analogue Productions. Das Album kommt in einem samt-matten Gatefold von Staunton zu den Jazzfans, vom Hausgrafiker James Wolf liebevoll im Look von „Kind of Blue“ designed. Der Musikjournalist und Jazzkenner Ashley Kahn hat die Liner Notes verfasst und lässt die Geschichte dieser Musik lebendig werden.
In Summe ergibt das ein hochwertiges Produkt, das natürlich vor allem von der Musik lebt. Die exzellente Pressung bringt die Feinheiten und Dynamik der Aufnahme fantastisch zur Geltung. Die Wärme und Klarheit der Instrumente sind erstaunlich, und die Balance zwischen den verschiedenen Klangfarben ist makellos. Ich bin ohnehin immer wieder verblüfft, in welch bemerkenswerter Qualität bereits in den 50er-Jahren Musik aufgenommen wurde. Und wenn sich heute Könner um die Bänder von damals kümmern, kommt etwas Feines dabei heraus.
„Birth of the Blue“ ist eine wunderbare Ergänzung des Miles-Davis-Katalogs. Das Album wird zwar – von Marketing versteht man bei Analogue Productions und beim Label Columbia auch etwas – im Kind-of-Blue-Kontext verkauft, besteht aber als eigenständiges Werk den Vergleichstest mit anderen Davis-Alben aus den späten 1950er-Jahren. Dass die vier Stücke insgesamt nur eine Spielzeit von knapp über 30 Minuten ergeben – schade, nicht zu ändern, aber dafür besticht jede Sekunde durch die Brillanz des Ensembles.
Anspieltipps: jedes der vier Stücke
Verfügbarkeit auf Vinyl: Die am 13. Dezember 2024 erschienene Erstpressung scheint derzeit ausverkauft zu sein, aber früh im Jahr 2025 wird es Nachschub geben. Die Auflage ist nicht limitiert (mit Ausnahme einer längst vergriffenen Sonderauflage von 1.000 Stück, die auf blauem Vinyl gepresst wurden).
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…