Als The Police nach ihrer vorerst letzten Tour 1984 eine Schaffenspause ankündigten, stellten sich viele Fans die Frage: Was nun? Sollte dieser kaum sechs Jahre währende Parforceritt des Trios mit fünf sensationellen Alben wirklich alles gewesen sein? Vor allem nach dem überwältigenden Erfolg der LP Synchronicity?

Die Antwort gab im Jahr 1985 Gordon Matthew Thomas Sumner alias Sting auf verblüffende Art und Weise: Er veröffentlichte The Dream of the Blue Turtles und verschmolz seine im Post-Punk und Reggae wurzelnden Kompositionen abenteuerlustig mit dem Jazz. Mich traf, im absolut positiven Sinne, fast der Schlag. Was waren denn das für Sounds? Woher kamen diese spielerischen Arrangements? Und wieso tänzelte ständig ein Saxophon so verführerisch leichtfüßig über die Melodien?

So etwas hatte es in der allzu häufig synthesizer-lastigen Popmusik der 1980er-Jahre bisher nicht gegeben! Zudem war Jazz  in meinem persönlichen Umfeld nicht präsent. Anders gesagt: Ich hatte keine Ahnung, keine Erfahrung und keine Anknüpfungspunkte. The Dream of the Blue Turtles sperrte mir förmlich die Ohren auf, und das lag an dieser jungen Garde an hervorragenden Jazz-Musikern, die Sting ins Studio gebeten hatte: Branford Marsalis (Saxophon), Kenny Kirkland (Keyboards), Omar Hakim (Drums) und Darryl Jones, der auch mit Miles Davis spielte und später als Bassist zum Dauergast der Rolling Stones avancierte, verzauberten Stings‘ Songs – und mich.

„The Dream of the Blue Turtles“ war, ist und bleibt für mich somit ein immens wichtiges Album. Es bildete den Auftakt zu einer anhaltend-aufregenden Entdeckungsreise in die Welt des Jazz und der musikalischen Improvisations. Mochten Stings Pop-Kompositionen einen vergleichsweise einfach strukturierten Rahmen setzen, in dem sich die Jazzer nicht vollends ausleben konnten, so kreierten die jungen Wilden doch eine außergewöhnliche Klangwelt und ließen keinen Zweifel daran, aus welchem musikalischen Reichtum sie schöpften. Folgerichtig sprach Sting nicht von einer Soloplatte, sondern verstand das Album als kollektive Leistung – die übrigens im Studio von Reggae-Größe Eddie Grant auf Barbados erbracht wurde.

… if the Russians love their children too

Nicht nur die Musik, auch die Texte des Album wurden heiß diskutiert. Es war die Zeit des Kalten Kriegs und des Wettrüstens zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Als Reaktion auf di reale Bedrohung durch den atomare Overkill sowie auf den NATO-Doppelbeschluss von 1979 bildete sich in der Zivilgesellschaft eine starke Friedensbewegung. Auch sozial und ökonomisch prallten Mitte der 1980er-Jahre Welten aufeinander. Der marktradikale Thatcherismus – verbunden mit der konservativen britischen Premierministerin Margret „Maggie“ Thatcher – trachtete danach, die Arbeiterklasse und Gewerkschaften in ihre Schranken zu weisen und stattdessen den börsenbasierten Finanzkapitalismus als maßgebliche wirtschaftliche Kraft zu etablieren. In diesem angespannten Klima entstanden Stings Songs, die heute zwar nicht mehr in jedem Detail, jedoch nach wie vor im großen thematischen Bogen zu Frieden, Gerechtigkeit, Macht und Verantwortung bedeutungsvoll nachklingen.

Im Stück „Russians“ – mit einer musikalischen Referenz an Sergei Prokofjew (1891–1953) – über die schwelende Gefahr eines atomaren Krieges finden sich beispielsweise diese unvergessenen Verse:

„We share the same biology
Regardless of ideology
What might save us, me and you
Is that the Russians love their children too“

Auch das getragene „We work the black seam togehter“ hat uns heute noch einiges zu sagen. Sting, aus der Arbeiterklasse stammend, stellte sich mit dem Stück an die Seite der um ihre Existenz kämpfenden Bergleute im britischen Steinkohlebergbau, wofür ich als Kind einer Bergarbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet eine biografische Antenne habe. Damals waren nicht die CO2-Emissionen und die Erderwärmung das große Konfliktthema, sondern es ging um die Konkurrenz der fossil-schmutzigen Kohle zur angeblich saubereren und effizienteren Atomenergie. In dem Song, der sich im gemäßigten wie kraftvollen Rhythmus schwerer körperlicher Arbeit bewegt, singt Sting: „They build machines that they can´t control. And bury the waste in a great big hole (…) Deadly for twelve thousend years is carbon-14.“ Das mögen sich alle, die aktuell wieder von der ach so sicheren Kernenergie schwärmen, durch den Kopf gehen lassen… Stings Worte waren jedenfalls gespenstisch prophetisch. Ein Jahr nach der Veröffentlichung der LP ereignete sich der Super-GAU von Tschernobyl.

Risikofreudig und exzellent

Das wunderbare an Alben in dieser musikalischen Premiumklasse ist: Es gibt keine Nieten. Wohin man auch hört, erklingt Erstklassiges. Ob das beschwingte „Love is the Seventh Wave“, das bewegende „Chrildren´s Crusade“ oder das geisterhafte „Moon over Bourbon Street“ – die Meisterschaft aller Beteiligten ist konstant. Sting hat sich mit „Dream of the Blue Turtles“ als ebenso risikofreudiger wie exzellenter Musiker und Komponist weiter etabliert und ein neues Kapitel aufgeschlagen. Mit seinen immens erfolgreichen ersten Soloalben entzog er The Police, so sehr uns als Fans auch das Herz blutete, jede Daseinsberechtigung.

Übrigens: Wer der Musik auf The Dream of the Blue Turtles – der Name des Album basiert auf einem Traum von Sting – etwas abgewinnen kann, der sollte ebenso dem nachfolgenden Live-Album Bring on the night sein Ohr schenken. Hier können Marsalis, Kirkland, Hakim und Jones deutlich freier agieren und feine Jazz-Feuer zu ausgewählten Police-Songs sowie Stings Liedern entzünden.

Weitere Anspieltipps: Shadows in the Rain / If you love Somebody set them free / Consider me gone

Titel: The Dream of the Blue Turtles
Künstler: Sting
Label: A&M Records
Jahr: 1985
Verfügbarkeit auf Vinyl: gebraucht und neu problemlos

Titel: Bring on the Night
Künstler: Sting
Label: A&M Records
Jahr: 1985
Verfügbarkeit auf Vinyl: gebrauchte Scheiben sind gut zu bekommen