Seit Monaten schon steht diese Hör- und Kaufempfehlung in Fragmenten im Speicher meines Computers. Warum ich den Text erst jetzt beende? Die Antwort ist wohl, dass ich kapituliere. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen kann, warum der LP „Cold Fact“ von Sixto Diaz Rodriguez aus dem Jahr 1970 der verdiente Erfolg nicht vergönnt war. Und ganz ehrlich: Ich verstehe es weiterhin nicht. Auf dem Weg von der Plattenfirma über die Radiostationen und Plattenläden bis zu den Hörer:innen ist der Geschmacksfaden irgendwo gerissen. Mysteriös.
Die Geschichte von Rodriguez, der am 8. August 2023 im Alter von 81 Jahren in seiner Heimatstadt Detroit verstorben ist, könnte sich in unserer heutigen global-vernetzten Welt überhaupt nicht mehr ereignen. Nachrichten, Trends und allerlei Unsinn verbreiten sich in Echtzeit, Sensationen und Hypes werden in den sozialen Medien geboren und verglühen dort auch wieder. Aber in der Vor-Internet-Ära war es möglich, dass ein Musiker in seiner Heimat erfolglos blieb, während seine Musik auf anderen Kontinenten die Menschen begeisterte und inspirierte – und zwar, ohne dass der Künstler davon wusste. So widerfuhr es Sixto Diaz Rodriguez mit „Cold Fact“ und dem Nachfolgealbum „Coming from Reality“.
Freiheitsverkünder in Südafrika
Das Faszinierende und zugleich Tragische an der Geschichte: Während Rodriguez Mitte der 1970er-Jahre mangels Erfolg wieder in seinen Job als Bauarbeiter in Detroit zurückkehrte, sahen Jugendliche im Apartheid-Staat Südafrika ein paar Jahre später in ihm eine Stimme des Protests. Sie verehrten ihn und seine Musik. Nur – niemand in dem abgeschotteten Land wusste, wer Rodriguez wirklich war. Und der Musiker hatte keine Ahnung, dass er dort Kultstatus genoss. Das Geheimnis lüftete erst ein Fan, der sich Mitte 1990er-Jahre auf die Suche nach dem Idol von einst machte. Dieses Abenteuer lieferte wiederum die Grundlage für den sehenswerten und Oscar-prämierten Dokumentarfilm „Searching for Sugar Man“ aus dem Jahr 2012.
An der Qualität seiner Musik konnte es einfach nicht liegen, dass sein Debütalbum „Cold Fact“ am Publikum vorbeiglitt wie ein unbeleuchtetes Schiff in dunkler Nacht. Jedenfalls erzeugt Rodriguez mit eingängigen Melodien und atmosphärischen Arrangements eine zeitlose Qualität, die das Album auch nach Jahrzehnten frisch und relevant erscheinen lässt. Vor allem aber singt er charismatisch und mit einer scharfen Beobachtungsgabe über die Welt, in der er lebte – das urbane Amerika jener Zeit mit all seinen Härten, das „Street Life“ mit seinen Rassen-, Klassen- und Drogenproblemen. Seine Songs sind bestechend, keiner Schublade zuzuordnen, sondern Soul, Rock, Psychodelia und Singer-Song-Writing in einer faszinierend vielfältigen Mischung. Cold facts zudem, die nackte Wahrheit. Vielleicht hatten die Musikfans vor 50 Jahren ja damit ein Problem, vielleicht wollten sie den Klartext wie im „Establishment Blues“ so deutlich dann doch nicht hören:
“Garbage ain´t collected / Women aren´t protected / Politicians using people / People they´re abusing / The mafia´s getting bigger / like pollution in the river / And they tell me that this is where it´s at.“
Prädikat: wertvoll.
Vielleicht fehlte nur ein Quäntchen Glück
Eventuell war es aber auch einfach so, wie immer wieder behauptet wird, nämlich, dass die Plattenfirma Sussex Records aus Los Angeles marketingtechnisch die PS nicht auf die Straße brachte. Oder Sixto Diaz Rodriguez war tatsächlich jener schwierige Kerl, wie auch zu lesen ist, der keine große Lust auf die Promotion hatte. Wie auch immer: schade, schade.
Mir kommt immer wieder der Gedanke in den Sinn, dass Rodriguez auch das Glück fehlte – ein DJ, eine Radiostation, die einen der Songs in die Dauerschleife schickte, ein Konzertpromoter zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Man darf nicht vergessen: Die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre waren eine formative Ära für die populäre Musik, in der im Monats-, wenn nicht im Wochentakt, Rock-, Folk- und Soulalben erschienen, die bis heute als Meilenstein gelten. Dass eine Aufnahme mal durch den Rost fällt – es musste, so grausam kann Statistik sein, einfach mal passieren.
Auch wenn Rodriguez im weiteren Verlauf seiner Karriere nie dauerhaft erfolgreich wurde, so brachte ihm der Film „Searching for Sugarman“ doch die verdiente Bewunderung. Der Soundtrack wurde ein Erfolg und Rodriguez konnte erneut touren und Konzerte geben. Seine Auftritte in Südafrika sind legendär. So bleibt der Eindruck eines Mannes, der sein Leben lang unterschätzt wurde. Aber wer weiß? Mag sein, dass ihm sein 1981 erlangter Universitätsabschluss in Philosophie an der Wayne University und die Verleihung der Ehrendoktorwürde im Jahr 2013 wichtiger waren als alles andere.
Anspieltipps: „Sugar Man“, „Crucify your mind“, und „I wonder“.
Verfügbarkeit auf Vinyl: problemlos
Lieber Christoph, endlich habe ich es in deinen Blog geschafft. Phantastisch, was du da schreibst und ins Licht meiner Aufmerksamkeit…